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„Fünf ist und bleibt fünf!?“

Begegnungen mit Zahlen. Aus dem Leben eines Kindes.

Ein Erfahrungsbericht von Ingrid Herrndorf, Köln

neu-13„Einszweidreivierfünfsechssiebenachtneunzehnelf.“ Dieses war eigentlich meine erste Begegnung mit dem Wort ‚Fünf‘, aber das habe ich damals noch nicht  bemerkt. Ich habe diesen Spruch beim Versteckenspielen mit den großen Kindern gelernt. Meine Mutter erkannte damals in mir eine große mathematische Begabung. Schade, dass ich sie später so enttäuscht habe. Dafür konnte ich gut Gedichte auswendig lernen.

Begriffen habe ich das mit der Fünf dann bald richtig: ‚Fünf‘, das ist mein kleiner Finger (der linken Hand natürlich, denn die rechte Hand brauchte ich zum Zählen). In der Schule sollte ich dann von diesem Finger – meiner eigenen Fünf – zwei wegnehmen. Wie sollte ich von meinem kleinen Finger zwei wegnehmen? Später musste ich ihn – die Fünf ‑ aufteilen. Ich mag heute noch nicht darüber nachdenken, wie man einen einzigen Finger aufteilen kann.

Schon früh hatte die Fünf eine besondere Bedeutung für mich. Wir hatten eine Treppe mit fünf Stufen. Mir war klar: Wenn ich hochgehe, ist die Fünf oben, wenn ich runtergehe, ist sie unten. Es gibt also eine Rauf-Fünf und eine Runter-Fünf. Ich erinnere mich noch mit Stolz an diese mathematische Erkenntnis.

Gerade bei  dem Spiel Mensch-Ärgere-Dich-Nicht bekam ich ersten Ärger, der die Mathematik betraf. Die anderen waren mit meinem Setzen nicht einverstanden. Ich wollte das Feld, auf dem ich stehe, mitzählen. Als ich dann gemerkt habe, dass man mit ihrer Art zu setzen schneller ist, habe ich es genauso gemacht. Was schneller geht, kann nicht falsch sein.

Ich habe sehr verschiedene Dinge zählen gelernt. Zum Beispiel: Fünf Tafeln Schokolade ist so viel wie fünf Stücke Schokolade, nämlich fünf.  Na ja, der Anzahl nach. Heute weiß ich, dass für Mathematiker beide Mengen dieselbe „Mächtigkeit“ haben. Mag sein. Mein Magen ist da anderer Meinung. Meine Waage auch.

Einmal durfte ich meiner Mutter beim Geldzählen helfen. 2 Zehner und 2 Zehner und 1 Zehner gibt? 2 + 2 + 1 =5. Also Fünf Zehner. Als ich „fünfzehn“ sagte, haben alle „falsch“ gerufen. Ich schämte mich für meine Dummheit.

Unsere Lehrerin im 2. Schuljahr hatte wohl einen Nussbaum im Garten. Sie brachte Nüsse mit und wir rechneten damit. Wir sollten 5 mal 5 Nüsse legen. Ich nahm  5 und noch mal 5. Das waren dann 10. Später musste ich auswendig lernen, dass 5 ∙ 5 = 25 ist. Das habe ich bis heute behalten, weil ich im Auswendiglernen gut bin.

Manche Fünfen habe ich „Luft-Fünfen“ genannt. „Nur noch fünf Mal rutschen!“ Das war prima und bedeutete: Wir gehen noch lange nicht nach Hause“. Kaum ist man gerutscht, ist eine Zahl weg, die man gar nicht sieht. Da kann man noch mal von vorne anfangen.

Zahlen kommen auch bei den Zeiten vor. Fünf Stunden in der Schule sind länger als fünf Stunden im Schwimmbad. Meine Lehrerin glaubt mir das nicht.

Jetzt habe ich schon fünf Mal eine fünf geschrieben. Das gibt 25. So viel Geld haben mir meine Eltern versprochen, wenn ich auf dem Zeugnis keine Fünf habe.

 Nein, ich will KEINE FÜNF!

Anmerkung der Redaktion:

Ingrid Herrndorf, die uns diesen Erfahrungsbericht zur Verfügung gestellt hat, ist (was nach diesen ersten Erfahrungen mit dem schulischen Lernen nicht unbedingt zu erwarten war) – Lehrerin geworden: Sie studierte erfolgreich das Lehramt Mathematik für Gymnasien und unterrichtet seit 12 Jahren Mathematik an einer Hauptschule in Köln…

Was sie hier so treffend als eigene kindliche Erfahrung beschreibt, ist genau jene einseitig „ordinale“ Auffassung von Zahlen, die für viele Kinder den Beginn einer „Rechenschwäche“ bedeutet.

Hinweise dazu, wie Sie Kinder bei der Überwindung dieses einseitigen und bei der Entwicklung eines tragfähigen Zahlverständnisses unterstützen können, finden Sie unter Anschauungsmaterial in der therapeutischen Arbeit mit Kindern.