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Begriffsklärung

„Rechenschwäche?“ – „Rechenstörung?“ – „Dyskalkulie?“
Ein wissenschaftlicher Streit – nicht nur um Worte!

Autor: Michael Gaidoschik

„Besondere Schwierigkeiten beim Erlernen des Rechnens“ (Schipper 2003) sind seit gut zwei Jahrzehnten Gegenstand wachsender Aufmerksamkeit seitens der Pädagogik, der Mathematik-Fachdidaktik, der Neuro-, Entwicklungs- und Kognitions-Psychologie, im Bereich der Hirnforschung auch der Medizin.

PädagogInnen und FachdidaktikerInnen verwenden dabei mehrheitlich das Wort „Rechenschwäche“, PsychologInnen sprechen zumeist von „Dyskalkulie“. Dahinter stecken dann oft auch deutlich unterschiedene Sichtweisen auf dieselbe Problemlage.

Die Problemlage

selbst ist dabei recht klar und den betroffenen Kindern, deren Eltern und Lehrkräften nur allzu bekannt (auch wenn oft nicht oder erst sehr spät erkannt wird, was dahinter steckt):

Eine genauere Auflistung von typischen Merkmalen finden Sie hier.

Die Frage nach den „Ursachen“

Wenigstens in einem sind sich die verschiedenen Wissenschaften, die über „Rechenschwäche“ / „Rechenstörung“ / „Dyskalkulie“ forschen, einig:

Die Probleme der betroffenen Kinder sind nicht Folge mangelnder Intelligenz!

Auch sonst durchschnittlich begabte, in anderen Bereichen vielleicht sogar überdurchschnittlich begabte Kinder sind davon in gleicher Weise betroffen – drohen aber aufgrund dieses speziellen Problems von einer höheren Schulbildung ausgeschlossen zu werden.

„Rechenschwache“ Kinder sind nicht dumm- aber woran liegt es dann?

Die Sichtweise von Pädagogik und Fachdidaktik

Zumindest in der Pädagogik und Fachdidaktik besteht heute Einigkeit darüber, dass es die eine, eindeutige Ursache für „Rechenschwäche“ nicht gibt. „Rechenschwächen“ können vielmehr aus einer Vielzahl von Faktoren entstehen, die nur zu einem Teil im Kind selbst liegen. Rechenschwäche ist daher nach dieser Sichtweise auch nicht als eine Art von Krankheit, als ein Defekt des Kindes zu betrachten.

Ein entscheidender Faktor für die Entstehung von „Rechenschwächen“ ist aus Sicht der Fachdidaktik der Mathematikunterricht. Das ist keine Schuldzuweisung an LehrerInnen. Wir wissen aus 25jähriger Zusammenarbeit, mit welchem Engagement gerade in den Volksschulen gearbeitet wird. Die Mängel liegen, seit vielen Jahren von FachdidaktikerInnen erkannt und benannt (vgl. etwa Schipper 2003, siehe Literatur), im System Schule:

All das sind Mängel, für die die einzelne Lehrkraft keine Verantwortung trägt und unter denen viele Lehrkräfte Tag für Tag selbst leiden, weil sie ihnen nur allzu bewusst sind. Und all das trägt zur Entstehung von „Rechenschwächen“ mindestens so bei wie die nun einmal unterschiedlichen Lernvoraussetzungen, die Kinder in die Schule mitbringen.

Was nun aber PädagogInnen und FachdidaktikerInnen bei der Suche nach den Ursachen einer „Rechenschwäche“ wesentlich erscheint:

Soweit die Wissenschaften bisher wissen, ist die Frage nach den (von Kind zu Kind eben unterschiedlichen) Entstehungsfaktoren nicht entscheidend für die Frage, wie dem nun einmal hier und jetzt betroffenen Kind bestmöglich geholfen werden kann.

Dafür entscheidend ist vielmehr:

Diese Fragen gilt es aus pädagogisch-fachdidaktischer Sicht zu klären. Darauf aufbauend lässt sich eine mathematikspezifische Förderung planen, die dem Kind aus seinen Schwierigkeiten heraushelfen kann.

Die Sichtweise von (Neuro-)Psychologie und Medizin

Von (neuro-)psychologischer und medizinischer Seite wird dagegen gerade in den letzten Jahren intensiv geforscht, ob und inwiefern vielleicht doch auch organische Faktoren für die Entstehung von Dyskalkulie (mit-)verantwortlich sind (und Dyskalkulie damit dann doch eine Art von Krankheit oder Behinderung darstellt).

Die Befunde dazu sind bis zum heutigen Tag alles andere als einheitlich (und aus pädagogischer Perspektive bislang auch wenig überzeugend). Aber selbstverständlich verfolgen Pädagogik und Fachdidaktik diesen Forschungszweig mit großem Interesse; eine aktuelle, gut lesbare Zusammenfassung des Forschungsstandes bieten etwa Landerl & Kaufmann (2008); einen Vergleich der unterschiedlichen Ansätze der einzelnen Disziplinen ermöglichen etwa auch Fritz, Ricken & Schmidt (Hrsg.) (2009) (siehe Leseempfehlungen.)

Freilich: Wenn es um Gegenmaßnahmen geht, also um die Frage, wie den rechenschwachen oder dann eben als „Dyskalkuliker“ bezeichneten Kindern geholfen werden kann, dann verweisen (jedenfalls bis zum heutigen Tag) auch NeuropsychologInnen auf die Pädagogik und bestätigen aus ihrer Sicht das, was etwa wir vom Recheninstitut seit 25 Jahren vertreten:

Fördermaßnahmen müssen am mathematischen Denken der Kinder ansetzen, und nicht etwa an so genannten Basis-Teilleistungen.

Dass nämlich Defizite im Bereich dieser Basis-Teilleistungen (wie Raumorientierung oder visuelle Wahrnehmung) ursächlich seien für die Entstehung von Rechenschwächen, wird von der aktuellen psychologischen Forschung einhellig zurückgewiesen. Und dass Trainingsmaßnahmen in diesem basalen Bereich zwar zu einer Verbesserung im basalen Bereich führen, an den mathematischen Schwierigkeiten aber nichts ändern, weiß die Forschung ohnedies seit langem.

Zur Häufigkeit des Problems

Wie viele Kinder sind nun „rechenschwach“ oder „dyskalkulisch“ bzw. haben eine „Rechenstörung F 81.2“?

(Unter diesem Begriff und Code findet das hier angesprochene Problem in der „Internationalen Klassifikation psychischer Störungen“ der Weltgesundheitsorganisation Erwähnung; ein Beispiel für die oben angesprochene, von der Pädagogik und Fachdiaktik nicht geteilte psychologisch-medizinische Sicht der Dinge.)

Die Frage nach der Häufigkeit kann klarer Weise nur in Abhängigkeit von der Definition beantwortet werden. Psychologische Studien kommen (international recht einheitlich) auf fünf bis sechs Prozent „Dyskalkuliker“ in jedem Jahrgang. Die Mathematik-Fachdidaktik (vgl. etwa Lorenz & Radatz 1993) spricht von bis zu 15 Prozent in Mathematik förderbedürftigen Kindern. Wir selbst haben keine quantitativen Studien anzubieten, meinen aber: Aus der Sicht jedes rechenschwachen Kindes ist seine eigene Rechenschwäche um eine Rechenschwäche zu viel. Und eines können wir aus langjähriger Erfahrung sagen:

Rechenschwäche ist kein Schicksal; und es ist nie zu spät, etwas dagegen zu unternehmen.