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Was die Schule tun kann

Wie kann ich einem rechenschwachen Kind im Klassenverband helfen?

Bei der Entstehung einer Rechenstörung können die unterschiedlichsten Faktoren eine Rolle spielen. Ein wichtiger Faktor ist der Unterricht selbst in all seinen Dimensionen. Daher unsere wiederholte Forderung, die weitreichenden Möglichkeiten zur Vermeidung von Rechenstörungen durch differenzierten Unterricht auszuschöpfen. Dafür wären freilich massive Anstrengungen in der Lehreraus- und -fortbildung, in der unterrichtsbegleitenden Forschung, aber auch geänderte organisatorische Rahmenbedingungen in den Schulen notwendig.

Vorbeugen ist immer besser als „Heilen“. Aber freilich darf man beides nicht gegeneinander ausspielen. Es stellt sich also auch die Frage: Was tun, wenn – vielleicht sogar trotz aller vorbeugenden Maßnahmen – ein oder mehrere Kinder in der Klasse unter einer massiven Rechenstörung leiden? Mit einfachen Rezepten können wir hier leider nicht dienen: Es gibt sie nicht. Jeder Einzelfall bedarf der individuellen Überlegung. Dennoch möchten wir den KollegInnen in den Klassen einige Vorschläge unterbreiten – und hiermit auch zur Diskussion stellen.

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Bei allen Unterscheidungen, die man aufgrund der Vielfalt der so bezeichneten Störungen treffen muss: „Rechenschwäche“ ist grundsätzlich „therapierbar“. Eine solche „Dyskalkulie-Therapie“ verlangt aber so gut wie immer Einzelförderung. Es ist daher kaum denkbar, die Überwindung einer Rechenstörung alleine durch Maßnahmen im Klassenverband in den Griff zu bekommen.

2
Bessere Rahmenbedingungen für die gezielte Förderung rechenschwacher Kinder bieten dagegen Förder- und Stützunterricht. Soll der Förder- bzw. Stützunterricht in dieser Weise wirksam werden, bedarf es freilich einer umfassenden Förderdiagnostik sowie entsprechend ausgebildeter Förderkräfte. Beides ist – nicht nur unseres Erachtens – im heimischen Schulwesen derzeit in keinster Weise sichergestellt.

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Dass eine Rechenstörung im Klassenverband kaum je überwunden werden kann, heißt freilich nicht, dass die Klassenlehrerin dem rechenschwachen Kind nicht helfen könnte. Die erste, wichtigste und unmittelbar wirksame Hilfsmaßnahme durch die Klassenlehrerin: Verständnis, Verständnis, Verständnis. Das setzt freilich voraus, dass die Lehrerin das Problem frühzeitig richtig erkennt. Sie muss also erkennen, dass hintern den Leistungsausfällen dieses Kindes nicht Faulheit, nicht Dummheit, kein böser Wille steckt – sondern eine Rechenstörung. Und sie muss wissen, dass diese Rechenstörung, vermittelt über den „Teufelskreis Lernstörung“, auch psychische Probleme und Verhaltensauffälligkeiten des Kindes nach sich ziehen kann.

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Die Klassenlehrerin muss dem rechenschwachen Kind dabei helfen, sein Scheitern richtig zu verstehen: nicht als Ausdruck mangelnder „Gescheitheit“ („Ich bin zu dumm für Mathe!“) oder einer besonderen „Unbegabung“ („Mathematik ist nichts für mich“). Sondern als Folge ganz bestimmter mangelhafter Lernvoraussetzungen, ganz bestimmter früherer Missverständnisse, ganz bestimmter fehlerhafter Lösungswege. Für all das ist das Kind nicht verantwortlich: Das muss ihm ebenso vermittelt werden wie die Tatsache, dass es seine Schwierigkeiten bewältigen kann.

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Die Klassenlehrerin sollte im Rahmen ihrer Möglichkeiten versuchen, die Eltern umfassend über das Problem ihres Kindes aufzuklären. Denn „Rechenschwäche“ ist in der breiteren Öffentlichkeit nach wie vor nahezu unbekannt. Also ist die Gefahr groß, dass Eltern den Charakter der Schwierigkeiten zunächst verkennen und deshalb falsch damit umgehen – trotz bester Absichten zum Schaden des Kindes.

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Wird im Förderunterricht und/oder durch geeignete außerschulische Maßnahmen an der Überwindung der Rechenstörung gearbeitet, dann stellen sich gewiss auch bald erste Fortschritte ein. Dennoch bleibt zumeist ein langer Weg, bis das Kind den Anschluss an die Klasse wiederfindet. In dieser Zeit nun muss dem Kind deutlich gemacht werden, dass es selbst das Maß für den Lern-Fortschritt ist – und nicht die Klasse. Anerkennung und Lob verdient das Kind also dafür, dass es gemessen an seinem Ausgangsniveau dazugelernt hat. Kommt diese Anerkennung hingegen deshalb zu kurz, weil doch gemessen an der Klasse immer noch ein Rückstand bleibt, so kann dies schlimme Folgen für die weitere Motivation haben. Das schließt selbstverständlich die Notengebung mit ein.

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Eben weil sämtliche Maßnahmen Zeit brauchen, stellt sich stets auch die Frage: Was kann kurzfristig unternommen werden, um rechenschwache Kinder im Unterricht zu entlasten? Diese Frage ist deshalb so dringend, weil eine ständige Überlastung in der Schule den Aufholprozess selbst immer wieder entscheidend bremst, vielleicht sogar gänzlich verunmöglicht.

a
Die beste Möglichkeit, das rechenschwache Kind zu entlasten, besteht darin, es von jenen Stoffbereichen zu befreien, die es in Folge seiner Rechenstörung zu einem gegebenen Zeitpunkt gar nicht sinnvoll bewältigen kann. Stattdessen sollte das Kind in jenen Bereichen arbeiten können, die bei seinen derzeitigen Voraussetzungen tatsächlich langfristigen Lernzuwachs versprechen. Eine solche „Differenzierung“ müsste auch Hausübungen sowie Probearbeiten umfassen.

b
Bei zahlreichen Stoffinhalten der Grundschulmathematik besteht die Möglichkeit, das rechenschwache Kind durch Verzicht auf anspruchsvollere Verfahren zu entlasten (Beispiel: schriftliche Division nur mit Aufschreiben der Multiplikation und Restermittlung durch schriftliche Subtraktion, wie in Deutschland bis in den Sekundarschulbereich hinein üblich).

c
Eine Entlastung ist kurzfristig auch durch das Bereitstellen zusätzlicher Hilfsmittel im Klassenunterricht erreichbar. Dabei muss allerdings sorgfältig überprüft werden, ob das Kind in der Verwendung dieser Hilfsmittel nicht gerade jene falschen Denkweisen verfestigt, welche durch die klassenexternen Maßnahmen überwunden werden sollen. Genau das aber ist der Fall bei allen Zählhilfen: Rein zählendes „Rechnen ist ein wesentliches Erkennungsmerkmal für einen bestimmten Typus von Rechenstörungen. Zugleich muss es ein Ziel jeder Förderung sein, dem Kind effizientere Lösungswege zu vermitteln.

Dabei geht es in keinem Fall um ein „Zählverbot“. Ein Kind, das auch in höheren Klassen vorwiegend durch Abzählen an den Fingern „rechnet“, drückt darin ja nur aus, dass es noch über keine anderen Möglichkeiten verfügt. Ihm diese seine einzige Möglichkeit zu verbieten (oder auch nur zu „empfehlen“, es „doch ohne Finger zu versuchen“), heißt nur, es in die Enge zu treiben.

Das Zählen verbieten ist also kein Weg; das Kind „einfach zählen lassen“ aber auch nicht. Es geht vielmehr darum, dem Kind Schritt für Schritt Alternativen zum Zählen aufzuzeigen – und das wird bei einem rechenschwachen Kind in der Regel nur außerhalb des Klassenverbandes, in geduldiger und oft kleinstschrittiger Einzelarbeit gelingen.

Dieser Lernprozess wird aber wesentlich behindert, wenn parallel dazu das Kind in der Klasse durch die Bereitstellung von Zählhilfen (oder die Ermutigung: „Zähl’s doch an den Fingern ab!“) zum rein zählenden Verknüpfen geradezu angehalten wird. Natürlich: Aufgaben auf dem Niveau des aktuellen „Schulstoffes“ sind anders für dieses Kind nicht lösbar. Doch sinnvoller als Rechnungen zu stellen, die nur auf langfristig nicht zielführenden Wegen gelöst werden können, wäre es eben, die Aufgaben vorübergehend jenem Niveau anzupassen, welches das Kind bereits ohne Zählen lösen kann.

8
In vielen Fällen wird der Rückstand des rechenschwachen Kindes – trotz noch so intensiver klassenexterner Förderung – nur mit einem zusätzlichen Schuljahr aufzuholen sein.

Ohne dass man die Frage einer Klassenwiederholung auf Mathematik reduzieren dürfte: Für die Überwindung einer Rechenstörung ist die Wiederholung einer frühen Klasse zweifelsfrei hilfreicher als das „Mitschleppen“ eines hoffnungslos überforderten Kindes mit der „Perspektive“, dass es ja „immer noch die vierte Klasse wiederholen könne“.

Verhängnisvoll wäre freilich die Erwartung, dass alleine das „noch einmal in der Klasse Sitzen“ ausreichen könnte, die Rechenstörung zu bewältigen: Soll die Wiederholung dem Kind langfristig weiterhelfen, so muss es während dieses zusätzlichen Jahres auch gezielt und konsequent außerhalb der Klasse gefördert werden.